Frauenzentrierte Zeiten in Alt-Europa
Diese Schlußfolgerung aus interdisziplinärer Forschung (s. u.) ist in den USA so anerkannt, dass sie nach Aussage der Geschichtslehrerin Margareth Lisonbee (Phoenix, Arizona) dort bereits seit mehreren Jahren Grundlage für Schulbücher ist.
Wie der "Chronik der Frauen" zu entnehmen ist, gehören zu den ältesten gefundenen figürlichen Abbildungen unserer Vorfahrinnen hunderte liebevoll gestaltete Frauendarstellungen, deren Alter auf bis zu 30.000 Jahre datiert wird. Männerdarstellungen fehlen bis 15.000 v.d.Z. völlig und kommen auch danach in eiszeitlichem Kulturausdruck nur vereinzelt vor. Die handhöhlen-großen Plastiken und Felsritzungen kamen an Tausende Kilometer voneinander entfernten Fundorten zwischen Atlantik und Schwarzem Meer zu Tage und sind trotzdem miteinander verwandt.
Sie erzählen von einem Weltbild in weiblicher Form. Marie König, Höhlenforscherin, hatte bereits in den 70er Jahren anhand der Untersuchung von altsteinzeitlich-eiszeitlichen Felsritzungen mit abstrakten Symbolen, Frauendarstellungen, Vulvensymbolen und Tieren mit dem Vorurteil aufgeräumt, dass Frauen dieser Zeit vor sich hindumpfen, wenn sie nicht von keulenschwingenden Männern an den Haaren hinter sich her gezogen wurden. Nein, nicht nur Marie König resumierte: Am Anfang war Kultur! Die Arbeit vieler Forscherinnen der letzten Jahre läßt ein überaus reichhaltiges Bild der Sammlerinnengeschichte entstehen. Darin entwickeln Frauen Gemeinschaftsleben (Schwestern leben mit ihrer Mutter zusammen und teilen sich die Versorgung der Kinder, was sich u. a. aus der Primatenforschung herleiten läßt) und Sprache (zur Weitergabe überlebenswichtiger Informationen der Frauen an die Kinder). Auch kulturtragende Entdeckungen (z. B. Nutzen von Pflanzen) oder Erfindungen (wie Nähnadel oder Sammlerinnenbeutel und später der jungsteinzeitliche Pflug), entstanden aus ihren Arbeitsbereichen. Sie entwickeln eine Zeit-Rythmenrechnung (markierten monatliche Mens/Mond- Zeiten und die 13 Monde im Jahr), in der auch der Tod eine Wiederkehr hatte (Bestattungsweisen und Höhlen als Orte des symbolischen Todes, der Wandlung erzählen davon).
Die Erforschung ihrer Lebensart enthält noch viel Stoff für interdisziplinäre Forscherinnen-Teams. Bis heute weisen die Funde auf eine 2 Millionen Jahre alte Symbolsprache, zu deren ältesten Zeichen die Kugel und das Linienkreuz auf sogenannten Nabelsteinen zählen. Die aus kugeligen Elementen aufgebauten Frauenstatuetten veranschaulichen nach Marie König die Rundung der Welt (des Ganzen) mit dem Nabel als Mittelpunkt und der Vulva als Symbol für Wiedergeburt und den zyklischen Prozess des Lebens.
Die Forschungsergebnisse über jugendsteinzeitliche Gesellschaft in Alt- Europa bestätigen und erweitern noch einmal die Erkenntnisse über die Altsteinzeit. 10.000 v.d.Z. ging die letzte Eiszeit zu Ende, und in weiten Teilen Alt-Europas wurde nun Ackerbau überhaupt erst möglich. Diese Lebensweise wird jungsteinzeitlich genannt.
Marija Gimbutas, Archäologin, erforschte die Bedeutung jungsteinzeitlicher Funde aus Alt- Europa, ohne dass sie "nach einer matrilinearen Gesellschaft gesucht habe. Vielmehr habe sie gefunden und nicht ignorieren können". Wie keine zweite konnte sie Grundlagenforschung betreiben, denn sie beherrschte mehr als 20 europäische Sprachen und war so in der Lage, archäologische Berichte aus Ost- und Westeuropa im Original zu studieren und deren Ergebnisse zu verknüpfen. Mit diesem enormen Quellenmaterial im Hintergrund wagte sie sich an die Deutung jungzeitlicher Symbolzusammenhänge und "übersetzte" diese in vielen Veröffentlichungen als "Sprache der Göttin". Ihre Darstellung zyklischer, frauenzentrierter "Lebensphilosophie" wird uns in deutscher Sprache vom Frauenmuseum Wiesbaden erschlossen.
Sprache der Göttin ist bildhaft "Schrift". "Kein Symbol kann isoliert behandelt werden. Das Verstehen der Teile führt uns zum Verstehen des Ganzen, welches wiederum dazu führt, mehr von den Teilen zu identifizieren". Symbolhafte Formen, Ritzungen, Anordnungen und Verwendungen, Figuren erzählen zum größten Teil vom zyklisch-rhythmischen Verlauf der Zeit. Diese dynamische Bewegung des Lebens findet in den Symbolen von Geburt, Tod und Wiedergeburt ihren Ausdruck.
Die Zeitschrift Scientific American veröffentlichte im April 92 eine Untersuchung der Universität Berkeley. Darin haben Forscherinnen anhand von Genstrukturen belegt, dass die erste Homo sapiens sapiens eine Frau war. Die Ur-Mutter aller heute existierenden Menschen lebte vor 200.000 Jahren, wahrscheinlich in Afrika.
Ur-Mutter, altsteinzeitliches Weltbild in weiblicher Form, jungsteinzeitliche Sprache der Göttin - welche Kraft und Macht (im Sinne von machen) halten diese wieder entdeckten Wurzeln für heutige Frauen und Lesben bereit?